Kurzinformation Religion: Daoismus

Begriff

Dao­is­mus (in älter­er Umschrift Tao­is­mus) gilt in Chi­na als eine der Drei Lehren (sān­jiào) neben Kon­fuzian­is­mus und Bud­dhis­mus. Er ist außer­dem bei Überseechi­ne­sen sowie in Malaysia, Sin­ga­pur, Viet­nam, Japan und Korea ver­bre­it­et. Der Begriff leit­et sich ab von der Schrift Dàodéjīng, die Lǎozǐ (4. Jh. v.chr.Z.*) zugeschrieben wird. Dào bedeutet “Weg”, “Sinn”, “Prinzip” oder “Fluss”; ist “Tugend”, “Kraft” oder “Leben”; Jīng ein Leit­faden oder eine klas­sis­che Textsamm­lung. Das erste Kapi­tel begin­nt mit dem Dop­pelvers: “Das Dao, das mit­geteilt wer­den kann, ist nicht das ewige Dao”. Ältere Frag­mente und Bezüge deuten ein höheres Alter einiger Inhalte des Werkes an. Ver­suche der Unter­scheidung eines philosophis­chen von einem religiösen Dao­is­mus überzeu­gen nicht und reflek­tieren eher die Entdeckungs­geschichte chine­sischer Reli­gio­nen durch euro­päische Reisende und Gelehrte. Bei Athana­sius Kircher (Chi­na mon­u­men­tis, 1667, S. 131ff.), der eine ursprüngliche (vor­bib­lis­che) Offen­barung Gottes suchte, erscheinen die Daois­t­en in ein­er abwegi­gen Her­leitung der chi­ne­sis­chen Reli­gio­nen aus der altä­gyp­tis­chen auf der (unter­sten) Weisheitsstufe der “ple­beis & Magis”. Erwäh­nt wer­den bei Kircher bere­its ein “dog­ma par­adis­um”, das den Erhalt von Kör­p­er und Seele ver­spricht, “phar­ma­cis” zum Ver­längern des Lebens, “Dae­mones”, welche aus den Häusern “exor[ziert…]” wer­den, und dass sie viele Göt­ter anbeten. Die erste lateinis­che Über­set­zung des Dàodéjīng fer­tigte 1720 der Jesuit Jean-François Noëla­sum an.

* v.chr.Z. nach Julia Dip­pel, „Altes erhal­ten – Neues gestal­ten?“, in: Bein­hauer-Köh­ler, Franke, Fratean­to­nio (Hrsg.): „Reli­gion, Raum und Natur“,Münster: Lit (2017).

Geschichte

VorzeitSemi-mythis­che Xia-Dynas­tie
18.–11. Jh. v.chr.Z.Shang-Dynas­tie: Orakel­knochen bericht­en von ‚Schaman­is­mus‘; die Wu (später die Fāng­shì) als religiöse Experten prak­tizierten eksta­tis­chen Tanz (z.B. für Regen), Wet­ter­vorher­sage, Traumdeu­tung, Kom­mu­nika­tion mit Geis­tern oder Ahnen
11.–3. Jh. v.chr.Z.Zhou-Dynas­tie: Entste­hungszeit der Mythen
11. Jh. v.chr.Z.Zhōu Wén­wáng und sein Sohn sollen die allmäh­lich ent­stande­nen 64 Hexa­gramme des Yì Jīng (I Ging; “Buch der Wand­lun­gen”) kom­men­tiert haben
4. Jh. v.chr.Z.Wahrschein­liche Entste­hung des Dàodéjīng; Entste­hung der ältesten Kapi­tel des Zhuāngzǐ (von Zhuāngzǐ und Schülern)
4.–1. Jh. v.chr.Z.Wahrschein­liche Entste­hung der älteren Teile des Huángdì Nèi­jīng (“Die Medi­zin des Gel­ben Kaisers”)
221–207 v.chr.Z.Qin-Dynas­tie
206 v.chr.Z.-220Han-Dynas­tie: Zhāng Jué schreibt Tàipíng Jīng (“Buch des großen Friedens”) und begrün­det mes­sian­is­che Bewe­gung (184–205 Auf­s­tand der gel­ben Tur­bane)
142Zhāng Dàolíng erscheint Lǎozǐ und er stiftet das höch­ste religiöse Amt des Himmels­meisters (Bewe­gung “Weg der fünf Schef­fel Reis”)
184/208/220–280Zeit der Drei Reiche
265–420Jin-Dynas­tie
304–439Sech­szehn Reiche
ab 317/18Gě Hóng ver­fasst Bàopǔ Zǐ (“[Buch des] Meis­ters, der die Ein­fach­heit umschließt”), Her­stestel­lung “alchemistis­ch­er” Dro­gen zur Erlan­gung von Unsterblichkeit
Ende 4.Jh.Shangqing-Schule (“Höch­ste Klarheit”), Sys­tem­a­tisierung des Pan­theons, Dadong Zhen­jīng (“Das wahre Buch großen Höh­le”): Med­i­ta­tio­nen. Daneben die Ling­bao Pai (“Schule des heili­gen Juwels”) mit bud­dhis­tis­chen Ein­flüssen (z.B. 32 Him­mel)
420–581Zeit der Südl. und Nördl. Dynas­tien
581–618Sui-Dynas­tie
618–907Tang-Dynas­tie: Bewe­gung Zhengyi Dào reformiert Amt des Him­melsmeis­ters
907‑1279Mehrere Reiche nebeneinan­der
11. Jh.Redak­tion der bis heute gülti­gen Fas­sung des Huángdì Nèi­jīng
12. Jh.Wáng Zhé begr. Quánzhēn Dào (“Weg der Voll­ständigkeit und Wahrheit”), gilt als wichtige Schule des Nèidān (“Innere Alchemie”, wörtlich “Elix­i­er”, “Zin­nober”); Verehrung von u. Rück­bezug auf Wèi Bóyáng (2. Jh.) u. andere “Unsterbliche” (Xiān)
1279–1368Mon­golis­che Yuan-Dynas­tie
1368–1644Ming-Dynas­tie
1409–1447Der daois­tis­che Kanon Dào Zàng wird auf kaiser­liche Anord­nung hin zusammen­gestellt (ca. 1.400 Werke)
1644–1911Qing-Dynas­tie (Mand­schu)
1851–1864Auf­s­tand der evan­ge­likal-synkretis­tis­chen Tàipíng Tiān­guó (“Himm­lis­ches Reich des höch­sten Friedens”): Zer­störung viel­er Tem­pel (‚Bilder­sturm‘)
1912–1949Repub­lik Chi­na
1949Him­melsmeis­ter flieht nach Tai­wan
ab 1950Unter Mao mod­erne Zusam­men­fas­sung von TCM (Tra­di­tionelle Chi­ne­sis­che Medi­zin)
Ende 1950erLiu Guizhen entwirft das heutige Qìgōng (“Atemübung”, “Energiear­beit”)
1957Grün­dung der Chi­nese Taoist Asso­ci­a­tion in Peking (online: taoist.org.cn)
1966–1976‚Kul­tur­rev­o­lu­tion‘: Reli­gionsver­fol­gung

Lehre & Praxis

Ursprünglich beze­ich­nete “Daoist” einen religiösen Experten, einen Meis­ter des Dao (Dàoshì), z.B. in einem monas­tis­chen Orden wie der Quánzhēn-Schule im Báiyún Guàn (“Tem­pel der weißen Wolken”) in Peking. Das Tem­pelange­bot, die philoso­phischen Konzepte (Wú wéi — “Nicht-Han­deln”; Zìrán — “von-selb­st-so”), die uni­ver­sal­isierende Adap­tion von Got­theit­en wie Xīwáng­mǔ (“König­in­mut­ter des West­ens”) durch die Schule des Him­melmeis­ter-Dao­is­mus sowie der Him­melsmeis­ter selb­st als ein wichtiges religiös­es Ober­haupt ste­hen ein­er Vielzahl lokaler Tra­di­tio­nen gegebenüber, die sich durch Ahnen­verehrung, Heilungsrituale, Schaman­is­mus, Magie und religiöse Feste ausze­ich­nen. Dabei ahmen die lokalen Rit­ualmeis­ter des fǎjiào die Daois­t­en nach und ver­wen­den ihre Sym­bole und Texte.
Kos­mol­o­gis­che Konzepte wie die Lehre von Yīn und Yáng als zwei gegen­sät­zlichen Prinzip­i­en, die sich aufeinan­der beziehen und eine Ganzheit darstellen, prä­gen schon die Orakel­knochen der Shang-Dynas­tie. Sie find­et sich auch im Yì Jīng, einem in der (neo-)konfuzianischen und in der daois­tis­chen Tra­di­tion rel­e­van­ten Orakel- und Weisheits­buch, aber auch in dem daois­tis­chen Klas­sik­er des Zhuāngzǐ. Ähn­lich grundle­gend ist das (auch Ch’i; “Atem”, “Luft”, “Kraft”) der chi­ne­sis­chen Medi­zin. Die Lehren und Prax­en der “inneren Alchemie” (Nèidān) verbinden Dao­is­mus mit schaman­is­tis­chen, kon­fuzian­is­chen und bud­dhis­tis­chen Ein­flüssen.
Gemein­sam ist aber allen Strö­mungen das Ide­al der Unsterblichkeit, auch wenn die Wege sich unter­schei­den. Die daois­tis­chen Göt­ter sind eigentlich “Unsterbliche” (Xiān), ihr “Paradies des West­ens” heilige Berge, auf denen die Unsterblichen wohnen. Neben Xīwáng­mǔ, Huángdì (dem Gel­ben Kaiser) und Lǎozǐ als Inkar­na­tion von einem der “Drei Reinen” (Sān Qīng) sind ins­beson­dere noch die “Acht Unsterblichen” (Bāx­iān) zu nen­nen, unter ihnen Hé Xiāngū als einzige Frau und Lán Cǎi­hé als geschlechtlich ambiva­len­ter Repräsen­tant der Aus­gestoße­nen. Ger­ade die “Acht Unsterblichen” haben chine­sische Kun­st, Lit­er­atur und mod­erne Pop­ulärkul­tur stark geprägt. Im daois­tis­chen Pan­theon ste­hen sie aber weit unter den “Drei Himm­lis­chen Beamten”, den “Vier Himm­lis­chen Min­is­tern” und den “Ster­nen­fürsten der Fünf Plan­eten und Sieben Sterne”.

Verbreitung in China

Je nach Def­i­n­i­tion von Anhänger*innen des Dao­is­mus ergeben sich unter­schiedliche Größenord­nun­gen der Ver­bre­itung. Nach dem Chi­nese Spir­i­tu­al Life Sur­vey (2010) beze­ich­nen sich nur 12 Mio. als “Daoist*innen”, 173 Mio. prak­tizieren daois­tis­che Rit­uale, aber sie seien schwierig von “volk­sre­ligiösen” Ele­menten zu tren­nen, 215 Mio. glauben an Ahnengeis­ter, 754 Mio. prakti­zieren eine Form von Ahnen­verehrung, 145 Mio. beacht­en die Empfeh­lungen der Har­monielehre des Fēng Shuǐ, 141 Mio. gaben an, an Cáishén, den Gott des Wohl­stands, der in “Volk­sre­li­gion” und Dao­is­mus verehrt wird, zu glauben.

Situation in Deutschland & im „Westen“

Die Rezep­tion von Ele­menten des Dao­is­mus in Deutsch­land ist sehr het­ero­gen. Werke wie das Dàodéjīng gehören zu den am häu­fig­sten über­set­zten Tex­ten und wur­den als Philoso­phie wie als “Mys­tik” rezip­iert. Eine jün­gere Adap­tion von Dao­is­mus und Kon­fuzian­is­mus sowie der “Kun­st des Krieges” des Sūnzǐ (5. Jh. v.chr.Z.) lässt sich in der Coach­ingszene beobacht­en. Als “daois­tisch” beze­ich­nen sich in Deutsch­land viele Anbieter*innen von Qìgōng und Tài­jíquán (ein­er “inneren” Kampfkun­st), organ­isiert im Deutschen Dachver­band für Qigong und Tai­ji­quan e.V. oder in der Deutschen Qigong Gesellschaft e.V. Das Tai­ji­quan & Qigong Jour­nal hat­te 2015 eine Auflage von 3.500 Exem­plaren. Daneben nen­nen sich Anbieter*innen der erwäh­n­ten “inneren Alchemie” daois­tisch – etwa in Nach­folge von Man­tak und Manee­wan Chia (z.B. “Tao Yoga der heilen­den Liebe. Der geheime Weg zur weib­lichen Liebe­sen­ergie”, München 2000). Inhaltlich kom­biniert das “Tao Yoga” tat­säch­lich daois­tis­che Tra­di­tio­nen mit diversen anderen Lehren und Tech­niken aus den Reli­gio­nen Asiens, aber auch mit west­lich­er Eso­terik. Ein noch erfol­gre­icher­er Autor war der chi­ne­sisch-kanadis­che Jolan Chang (1917–2002). Sein erstes Buch erschien 1977: “The Tao of Love and Sex. The Ancient Chi­nese Way to Ecsta­sy”.
Häu­fig ist dabei auch eine jew­eilige, teil­weise lose Adap­tion des (‚eso­ter­ischen‘) Drachen­tor-Dao­is­mus (Lóng­mén, Zweig der Quánzhēn-Schule). In Barcelona grün­dete Tian Chengyang (Suchun Tian) 2001 einen “Tem­pel der Rein­heit und der Stille” (Qing Jing Gong) sowie 2005 eine Aso­ciación de Taośi­mo de España. Im amerikanis­chen Boston gibt es den Tem­ple of Orig­i­nal Sim­plic­i­ty, abhängig vom Cen­ter of Tra­di­tion­al Taoist Stud­ies des in Rus­s­land aufgewach­se­nen Grand Mas­ter Alex Ana­tole. Ein Euro­pean por­tal of Long­men taoists bietet Sem­i­nare nach Wang Lip­ing (geboren 1949) an. Eine Deutsche Daois­tis­che Vere­ini­gung e.V. wurde 2016 gegrün­det. Es find­et aber ver­gle­ich­bar dem “Tao Yoga” eine jew­eils mehr oder weniger stark synkretis­tis­che Ein­bet­tung in all­ge­mein chi­ne­sis­che Philoso­phie, Medi­zin, Medi­tions- und Kampfkun­st etc. statt.
Schließlich ist die Adap­tion von Akupunk­tur und Tra­di­tioneller Chi­ne­sis­ch­er Medi­zin zu nen­nen. 580 Mit­glieder hat­te die Arbeits­ge­mein­schaft für Klas­sis­che Akupunk­tur und Tra­di­tionelle Chi­ne­sis­che Medi­zin e.V. und 14.082 Ärzt*innen hat­ten 2015 laut BGE Bund eine Zusatzqual­i­fika­tion in Akupunk­tur.

Schriften

Jacobs, Jörn: Textstudi­um des Laozi, Daode­jing, Frank­furt Main: Peter Lang 2001.
Simon, Rainald: Laozi. Daode­jing. Das Buch vom Weg und sein­er Wirkung, Ditzin­gen: Reclam 2009.
Wohl­fart, Gün­ther (Hrsg.): Zhuangzi. Das Buch der daois­tis­chen Weisheit. Auswahl, über­set­zt von Stephan Schuh­mach­er, Ditzin­gen: Reclam 2003.
Unschuld, Paul U.: Huang Di nei jing su wen [Medi­zin des Gel­ben Kaisers, 1. Teil]. Nature, Knowl­edge, Imagery in an Ancient Chi­nese Med­ical Text, Berkeley/Los Ange­les: Uni­ver­si­ty of Cal­i­for­nia Press 2003 (mit Teilüber­set­zun­gen).

Literatur

Blo­hfeld, John: Der Tao­is­mus oder die Suche nach der Unsterblichkeit, München: Diederichs Gelbe Rei­he 1988.
Robi­net, Isabelle: Geschichte des Tao­is­mus, München: Diederichs Gelbe Rei­he 1995.
Wild­ish, Paul: Dao­is­mus im Überblick. Die Weisheit­slehre von Yin und Yang, Freiburg i. Br.: Herder 2002 [insb. zu „inner­er Alchemie“; per­spek­tivis­che Darstel­lung].
Malek, Roman: Dao­is­mus, in: Johann Figl (Hrsg.), Hand­buch Reli­gion­swis­senschaft, Inns­bruck: Tyro­lia 2003, S. 307–315.
Gras­mück, Oliv­er: Geschichte und Aktu­al­ität der Daoismus­rezeption im deutschsprachi­gen Raum, Mün­ster: Lit 2004.
Schip­per, Kristofer; Verellen, Fran­cis­cus
: The Taoist canon. A his­tor­i­cal com­pan­ion to the Daozang, Chica­go: The Uni­ver­si­ty of Chica­go Press 2004.
Reit­er, Flo­ri­an C.: Der Daois­tis­che Priester. Selb­stver­ständ­nis und Anspruch, in: Kon­rad Meisig (Hrsg.), Chi­ne­sis­che Reli­gion und Philoso­phie, Wies­baden: Har­ra­sowitz 2005, S. 93–109.
Reit­er, Flo­ri­an C.: Heilige Schriften des Tao­is­mus, in: Udo Twor­usch­ka (Hrsg.), Heilige Schriften. Eine Ein­führung, Frank­furt am Mail: Suhrkamp 2008, S. 300–329.
Jülich, Thomas: Der Orden des Sima Chengzhen und des Wang Ziqiao. Unter­suchun­gen zur Geschichte des Shangqing-Dao­is­mus in den Tiantai-Bergen, München: Her­bert Utz 2011.
Wen­zel-Teu­ber, Katha­ri­na: People’s Repub­lic of Chi­na: Reli­gions and Church­es. Sta­tis­ti­cal Overview 2011, in: Reli­gions & Chris­tian­i­ty in Today’s Chi­na, Vol. II, 2012, No. 3, S. 29–54.
Unschuld, Paul U.: Tra­di­tionelle Chi­ne­sis­che Medi­zin, München: Beck 2013.
Wag­n­er, Markus Maria: Tai­ji­quan. Klas­sis­che Schriften, Praxiskonzepte und Beziehun­gen zum Dao­is­mus, Old­en­burg: Lotus 2015.
Hut­ter, Man­fred: Die Wel­tre­li­gio­nen, München: Beck, 5. Auflage, 2016.

Autorin: Kris Wagen­seil © REMID 2017

Kurz­in­for­ma­tion Reli­gion “Dao­is­mus” als PDF-Datei

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