REMID
Religionswissenschaftlicher Medien- und Informationsdienst e. V.
Kurzinformation Religion: Salafismus
Entstehung
Innerhalb des sunnitischen Islams bezeichnet der Sammelbegriff Salafiyya reformfundamentalistische Strömungen, die sich auf al-Salaf, die Altvorderen, berufen. Unterschiedliche Auffassungen bestehen, ob der Wahabismus des Muhammad ibn Abd al-Wahhab (1703–1792) zum Salafismus zugerechnet werden kann, oder ob er Ende des 19. Jh. oder Mitte der 1920er in der arabischen Welt entstanden sei. In den 1990er Jahren kam es zur Ansiedelung salafistischer Zentren in spezifischen deutschen Regionen. Der Einfluss der folgenden vier Ansiedlungen war für die Entwicklung der salafistischen Bewegung am entscheidendsten: die König-Fahd-Akademie (Bonn), das Multikultur-Haus (Neu-Ulm), das Islamische Informationszentrum (Ulm) sowie die frühere Al-Quds-Moschee (Hamburg). Aus diesem Umfeld entstanden salafistisch-politische und salafistisch-dschihadistische Gruppen, u.a. die Sauerland-Gruppe. Zudem gab es aus diesem Umfeld erste deutsche Foreign Fighters wie Eric Breiniger, die z.B. in Waziristan im Dschihad kämpften. Das Jahr 2005 kennzeichnet den Beginn des politischen Salafismus. Der ersten Generation arabischstämmiger, salafistisch-puristischer Prediger wie Abu Jamal (Mohamed Benhsain), Shaikh Abul Husain (Hassan Dabbagh) und Abdul Adhim (Adel Hadime Kamouss) folgten aus den Reihen ihrer Schüler als zweite Generation jüngere salafistisch-politische Prediger wie Abu Hamza (Pierre Vogel) oder Abu Adam (Sven Lau). Daneben gab es salafistisch-politische Prediger wie Ibrahim Abou-Nagie und Abu Anas (Muhammad Seyfudin Ciftici), die durch die “Lies-Aktion” oder eine Islamschule weitere Anhänger für den Salafismus gewinnen konnten. Zusammen mit Abu Duyana (Said el-Emrani) und Abu Abdullah (Ibrahim Belkaid) gründete Abou-Nagie die Plattform Die wahre Religion (dwr), die zahlreiche salafistisch-dschihadistische Inhalte und Prediger beherbergte, bis der Verein Ende 2016 gerichtlich verboten wurde. Ihre Nachfolger-Gruppe ist die Seite I love Muhammad. Ab Ende der 2000er Jahre entstanden salafistisch-dschihadistische Gruppen wie Millatu Ibrahim und DawaFFM, deren Mitglieder vielfach in den Dschihad in Krisengebiete wie den Irak oder Syrien ausreisten.
Lehre
Die salafistische aqida (Glaubenslehre) setzt sich aus vier grundlegenden Elementen zusammen:
- dem tauhid (der Ein(s)heit Gottes, Prinzip des Monotheismus), daraus kann eine bedingungslose Subordination unter Gottes Willen abgeleitet werden,
- der Rückbesinnung auf Koran sowie Sunna, die als (rechts-)verbindliche Quellen gelten und keine Veränderungen oder Neuerungen erlauben (bid´a),
- der Vorbildfunktion des Propheten Muhammad sowie sogenannten frommen Altvorderen (al-salaf al-salih) und
- der Selbst- und Glaubensrezeption als “einzig wahre Gläubige”, die den einzig wahren Glauben repräsentieren und infolgedessen als “auserwählte Gruppe” ins Paradies gelangen würden, damit verbunden ist eine Steigerung der Bedeutung von Dichotomien wie halal (erlaubt) und haram (verboten).
Besonderheiten in Europa / Deutschland
Eine besondere Praxis in Deutschland waren die Koran-Verteilungsaktionen (“Lies”- Im Namen Deines Herrn, der Dich geschaffen hat) von Abou-Nagie, dessen Konzept in über zehn anderen europäischen Ländern sowie in Russland und der Türkei adaptiert wurde. In Deutschland existieren einige salafistische Gruppen wie Ansar ul-Aseer, die über Seelsorge im Strafvollzug neue Mitglieder werben möchten.
Vergleichbare Milieus entwickelten sich in Frankreich, Belgien, Großbritannien, Italien, Österreich, Spanien und den Niederlanden seit den 1990er Jahren. Genannt werden können noch “Shari´a 4”-Organisationen (z.B. Sharia4Belgium), die transnational vernetzt sind. Im Zuge des syrischen Bürgerkrieges gab es zahlreiche salafistische Gruppen, die zum Zweck einer humanitären Hilfe für ihre ‚Glaubensgeschwister‘ in Syrien und dem Irak Sach- und Geldspenden sammelten (z.B. Ansaar International). Manche salafistischen Hilfsorganisationen geraten in den Verdacht einer finanziellen, personellen und materiellen Unterstützung dschihadistischer Milizen vor Ort (man siehe den Fall der Gruppe Jaish al-muhajirin wal-ansar, Armee der Auswanderer und Helfer, kurz: Jamwa).
Praxis
Als reformfundamentalistische Bewegung zeichnet sich der Salafismus durch seine restriktive Auslegungsweise des Islam aus, die u.a. in einer wortlautgetreuen Auslegung und Befolgung von Koran und Sunna ihren Ausdruck findet. Der Prophet Muhammad und dessen Gefährten bzw. Nachfolge-Generationen (al-salaf al-salih) bilden die religiöse sowie lebenspraktische Richtschnur für salafistische Gläubige, weshalb sie deren Handlungsweisen bis ins kleinste Detail nachzuleben versuchen.
Es wird ein Verhüllungsgebot von beiden Geschlechtern praktiziert. Die Männer tragen z.B. Hosen, die eine Handbreit über dem Knöchel enden, sowie einen Voll- oder Kinnbart im Sinne des Propheten. Die weiblichen Mitglieder ziehen oftmals neben dem Hidjab (ein Kopftuch, welches ebenfalls Schultern und Hals bedeckt) auch einen sogenannten Niqab (Gesichtsschleier) an. Beide Geschlechter tragen zumeist ein weites Gewand (Jellaba), das ihre Aura (die Seelenhülle) verdecken soll. Andere Lebensweisen, Glaubensformen oder eine abweichende islamische Orthopraxie (insbesondere Schiitentum und Sufismus) lehnen die Salafist*innen als ‚unislamisch‘ ab. Sie versuchen, möglichst wenig bis keinen Kontakt zu den sogenannten kuffar (Ungläubigen), zu denen Andersgläubige, Agnostiker, Atheisten und auch andere Muslime gehören können, um die Stärke des eigenen Glaubens (iman) nicht zu gefährden.
Ihre religiöse und lebenspraktische Weiterbildung erfolgt neben dem intensiven Studium der arabischen Sprache, in “Islam-Seminaren” bspw.‚aqida-Schulen, die sowohl im Internet, als auch an ausgewählten Orten stattfinden können. Die öffentlichen Kundgebungen und Veranstaltungen greifen daneben auch aktuelle Themen, etwa die gegenwärtige Debatte um Kopftuch-Verbote, auf. Bei den öffentlichen Großveranstaltungen kommt es häufig auch zu Konversionen anwesender Zuschauer auf der Bühne, vergleichbar der Praxis in evangelikalen charismatischen Strömungen des Christentums.
Verbreitung
Schätzungen des Bundesamtes für Verfassungsschutz zufolge, beläuft sich die aktuelle Zahl von Salafist*innen auf ca. 9000 Personen (Stand: Februar 2017). Im Vergleich dazu lag ihre Anzahl im Jahr 2013 noch bei der Hälfte. Damit kann die salafistische Bewegung als eine der am schnellsten wachsensten, derzeitigen islamistischen Bewegungen Deutschlands bezeichnet werden. Eine Konzentration salafistischer Bewegungen ist in Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen sowie in Berlin, Bremen, Hamburg, im Frankfurter Raum und in Teilen Baden-Württembergs zu verzeichnen.
Organisation
Der Salafismus in Deutschland weist flache Hierarchien auf. Der Aufstieg zum Prediger kann leicht vollzogen werden. Die Organisation entsteht durch die Orientierung der Mitglieder an einzelnen charismatischen Predigern. Die salafistischen Gruppen organisieren sich in Europa zudem in verschiedenen Formationen wie bspw. den bereits genannten “Shari´a 4”-Organisationen. Die Aktivitäten der Salafist*innen haben sich seit den 2010er Jahren verstärkt in den Social-Media-Bereich verlagert, weil die Interessenten hierdurch unmittelbar mit Predigern und ebenso über lange Entfernungen miteinander kommunizieren können. Während in arabischsprachigen Ländern wie Ägypten die sogenannten Shaikhs als Lehrer in salafistischen Gruppen fungieren, ist die “Lehrer-Schüler-Beziehung” in Deutschland sowie in Europa weniger institutionalisiert. Vereinzelt wurden Räume von Moscheen, z.B. von solchen mit Nähe zum Wahabismus, vorübergehend genutzt.
Schriften & Medien (Auswahl)
Breininger, Eric: Mein Weg nach Dschannah. Waziristan 2011.
Al-Qaeda in the Arabian Peninsula: Inspire Magazine (2011–2015).
Islamic State of Iraq and the Levant: Dabiq Magazine (2014–2016).
Asadullah TV: Supermuslim (Zeichentrickserie, 2 Staffeln seit 2012).
Literatur
Khosrokhavar, Farhad; Bénichou, David; Migaux, Philippe (Hg.): Le Jihadsme. Le Comprendre Pour Mieux Le Combattre, Paris 2015.
Käsehage, Nina (Hg.): Konversion zum Islam innerhalb Deutschlands. Unter besonderer Berücksichtigung verfassungsrechtlicher Fragen, Hamburg 2016.
Dies. (Hg.): Dschihad als Ausweg, Warum tschetschenische Frauen in den Krieg ziehen und deutsche Kämpferinnen ihnen folgen, Springe 2017.
Meijer, Roel (Hg.): Global Salafism. Islam´s New Religious Movement, New York 2009.
Neumann, Peter (Hg.): Prisons and Terrorism. Radicalisation and De-radicalisation in 15 Countries, in: ICSR, King’s College (Hg.), London 2010.
Ders. (Hg.): Die neuen Dschihadisten. ISIS, Europa und die nächste Welle des Terrorismus, Berlin 2015.
Schneiders, Thorsten Gerald (Hg.): Salafismus in Deutschland, Ursprünge und Gefahren einer islamisch-fundamentalistischen Bewegung, Bielefeld 2014.
Said, Benham T.; Fouad, Hazim (Hg.): Salafismus, Auf der Suche nach dem wahren Islam, Freiburg im Breisgau 2014.
Toprak, Ahmet; Weitzel, Gerrit (Hg.): Salafismus in Deutschland. Jugendkulturelle Aspekte, pädagogische Perspektiven, Berlin 2017.
Autorin: Nina Käsehage © REMID 2017